Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (AFuAMvD)

Auf dem Altar der Wahrheit

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© Elena Schweitzer / stock.adobe.com

Auf dem Altar der Wahrheit

Von Horst Delkus

Warum Weisheit den Bau leiten soll

Die Frage „Was ist Wahrheit?“ ist eine der ältesten und kompliziertesten in der Geschichte der Philosophie. Historisch interessant ist, dass die Frage „Was ist Wahrheit?“ nicht mit einem Philosophen konnotiert ist, sondern mit einem, wenn man so will, Politiker und Verwaltungsbeamten, dem römischen Statthalter Pontius Pilatus: „Was ist Wahrheit?“ ist seine, wohl rhetorisch gemeinte Erwiderung im Johannnis-Evangelium auf die Bemerkung von Jesus, er sei auf die Welt gekommen, um „Zeugnis für die Wahrheit“ abzulegen.
Jahrhundertelang — vor der Aufklärung — war das mit der Wahrheit für die meisten Menschen eine recht einfache Angelegenheit: Die Kirche war im Besitz der Wahrheit. Ihre Wahrheit wurde geglaubt. Und wer der Wahrheit der Kirche nicht folgte, wurde als Ketzer gebrandmarkt, verfolgt und umgebracht.

Nun ist die Liebe zur Wahrheit, das Streben nach Wahrheit elementar für die Freimaurerei. Aber was verbirgt sich hinter diesem Begriff „Wahrheit“ aus freimaurerischer Sicht? Wenn man nachforscht, stellt man fest: Der Wahrheitsbegriff der Freimaurerei ist nirgendwo klar definiert!

In unserem Ritual geht es an mehreren Stellen um die Suche nach Wahrheit.

Im Kontext unseres Rituals wird Wahrheit allerdings nicht im Sinne einer Erkenntnis verstanden, sondern als: Rechtschaffenheit, als Redlichkeit, als moralische Kategorie im Sinne von „ein wahrer Mensch“ werden.
Bei den Wahrheiten, die der Suchende auf seinen symbolischen Reisen vernimmt, handelt es sich ebenfalls nicht um allzu tiefschürfende philosophische, sozial- oder naturwissenschaftliche Erkenntnisse, sondern um — Lebensweisheiten!
Auch der Begriff „Altar der Wahrheit“ — der vielleicht etwas mehr verspricht — hilft uns nicht viel weiter. Was kann man da entdecken? Auf einem Tisch liegen die drei großen Lichter der Freimaurerei: Winkelmaß und Zirkel sowie das „Buch des Heiligen Gesetzes“. Bei uns ist es in der Regel die Bibel. Alles in allem vermitteln uns die drei großen Lichter mit Sicherheit keine Wahrheiten im wissenschaftlichen Sinne. Sie sind von ihrem Symbolgehalt her lediglich Hilfen für ein an Ethik und Moral orientiertes Leben.
Wer also in der Freimaurerei Wahrheiten sucht im Sinne von Offenbarungen, geheimem Wissen oder auch wissenschaftlich abgesicherter Erkenntnisse, der wird enttäuscht sein. Bei uns wird niemand ewige Wahrheiten finden. Da mag er noch so viele Grade erklimmen oder andere freimaurerische Lehrarten besuchen. Wer so etwas sucht, ist anderswo besser aufgehoben. Auch, wer sich an „Wahrheiten“ festhält wie an einem Treppengeländer. Freemasonry makes good men better. Mehr nicht!

„Als ob die Wahrheit Münze wäre!“

Ich habe einiges an Literatur durchstöbert, um herauszufinden, ob sich nicht vielleicht doch irgendwo etwas finden lässt, was uns der Fragestellung „Was ist Wahrheit, insbesondere aus freimaurerischer Sicht?“ näherbrächte.
Gefunden habe ich eine interessante Passage bei unserem Bruder Lessing in seinem wohl bekanntesten Werk „Nathan der Weise“. Nathan wurde zu Saladin gerufen. Er geht zu ihm und rechnet damit, dass der klamme muslimische Herrscher sich von ihm Geld leihen will. Doch zu Nathans Überraschung kommt es anders: Saladin will von Nathan wissen, welche die wahre Religion sei. Nathan führt darauf den folgenden inneren Monolog:

Nathan (allein):
Hm! hm! — wunderlich! — Wie ist
Mir denn? — Was will der Sultan? was? — Ich bin
Auf Geld gefasst; und er will – Wahrheit. Wahrheit!
Und will sie so, — so bar, so blank, — als ob
Die Wahrheit Münze wäre! — ja, wenn noch
Uralte Münze, die gewogen ward! —
Das ginge noch! Allein so neue Münze,
Die nur der Stempel macht, die man aufs Brett
Nur zählen darf, das ist sie doch nun nicht!
Wie Geld in Sack, so striche man in Kopf
Auch Wahrheit ein?

Erst einmal fällt auf, dass Nathan wiederholt, um was es geht: „Ich bin auf Geld gefasst; und er will — Wahrheit. Wahrheit!“ Es muss also bei der Wahrheit um etwas sehr Wichtiges gehen, etwas sehr Bedeutungsvolles, vielleicht auch etwas sehr Kompliziertes. Sonst würde Nathan es nicht wiederholen. Mit der Münze wählt unser Bruder Lessing ein Bild von etwas, von dem Nathan viel versteht. Denn der ist ein reicher Kaufmann, kennt sich also mit Geld aus. Nathan äußert seine Skepsis, was die Wahrheit angeht mit „als ob“. „Als ob die Wahrheit Münze wäre!“ Er glaubt es also selber nicht, dass die Wahrheit eine Münze sei — so bar, so blank, mit anderen Worten: so real, so glänzend schön. Die uralten Münzen, die ja nach ihrem Gold- und Silbergehalt gewogen wurden, „das ginge noch“, sagt Nathan. Mit anderen Worten, da, wo es um reine Messbarkeit, um reine Empirie geht, ist es noch relativ einfach, mit der Frage: Was ist Wahrheit? Aber moderne Münzen aus irgendeiner Legierung, die nur einen Stempel aufgedrückt bekommen? Mit anderen Worten: Wo man glauben muss, wo nur der Anschein erweckt wird, wo man vertrauen muss, dass es wahr sein kann? „Das ist es doch wohl nicht!“, meint Nathan. Selbst wenn man es zählen darf! Also in einem gewissen, wenngleich sehr oberflächlichen Sinne sogar nachprüfen kann. Und wenn Wahrheit eine Münze sei, so könne man sie dann im Kopfe sammeln und anhäufen, wie Geldmünzen in einem Sack? Diese Frage stellt Lessing rhetorisch. Denn er hat so seine Zweifel, dass man Wahrheiten einfach so ansammeln kann wie Münzen. Wahrheit, wird Lessing gedacht haben, kann man nicht einfach sammeln und anhäufen! An ganz anderer Stelle erläutert Lessing, wie er es mit der Wahrheit hält:

„Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatz, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein.“

„… die Wahrheit suchen ist der Weg des Menschen.“

Nebenbei: Konfuzius kam rund 2300 Jahre vorher zu ähnlicher Erkenntnis: „Die Wahrheit haben“, lehrte er, „ist des Himmels Weg, die Wahrheit suchen ist der Weg des Menschen.“
Doch bleiben wir bei unserem Bruder Lessing. Lessing geht noch weiter: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeint, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen.“ Und an anderer Stelle sagt Lessing: „Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich [des Menschen] Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit besteht.“ Der Wert eines Menschen bestimmt sich nach Lessing also dadurch, wie intensiv und aufrichtig er nach Wahrheit sucht. Das ist für Lessing auch der Weg zur menschlichen Vervollkommnung. Die ständige Suche nach Wahrheit macht den Menschen aus! Und lässt ihn zu einem „wahren Menschen“ werden. Damit haben wir wiederum auch einen Bogen gefunden zum Verständnis unseres Aufnahmerituals.

Auch in seiner berühmten Ringparabel, die im „Nathan“ im Anschluss an Nathans inneren Monolog folgt und bei uns Freimaurern ja äußerst beliebt ist, möchte Lessing vor allem zeigen, dass es eigentlich irrelevant ist, zu versuchen herauszufinden, welche der drei Religionen die wahre ist. Und dass es letztendlich darauf ankommt, wie es der Richter in seinem Richtspruch formuliert: „Es eifre jeder seiner unbestochnen von Vorurteilen freien Liebe nach. Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag zu legen!“ Die Kraft des Steins, sich zu einem guten, an Ethik und Moral orientierten Menschen zu entwickeln, der in Harmonie mit seiner Umwelt lebt.

Wer Wahrheit sucht, braucht so etwas wie einen inneren Kompass, um nicht herumzuirren. Die Suche nach Wahrheit sollte von mindestens drei Ecksteinen bestimmt sein:

  1. von der menschlichen Erfahrung, der ­Praxis,
  2. von der Toleranz und
  3. von der Humanität.

„Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.“

Zum 1. Eckstein Erfahrung bzw. Praxis:

Der deutsche Philosoph Karl Marx meint dazu in seiner zweiten These über einen anderen Philosophen, nämlich Ludwig Feuerbach: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme — ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens — das von der Praxis isoliert ist — ist eine rein scholastische Frage.“
Die spannende Frage ist nun, wie man Praxis definiert? In der Wissenschaft ist das vor allem alles, was messbar ist. Wiederholbar messbar ist. Am besten im Labor. Ohne jetzt auch noch auf die Erkenntnisse der Quantenphysik, etwa die Heisenbergsche Unschärferelation, oder den Gödelschen Unvollständigkeitssatz einzugehen, der besagt, dass es in hinreichend starken widerspruchsfreien Systemen immer unbeweisbare Aussagen gibt — nur ein Satz: Die Wahrheit der messbaren Welt hat viele Vorteile, aber einen entscheidenden Nachteil: Sie erfasst immer nur das, was messbar ist. Die messbare Welt. Wobei in der Regel von der Dynamik, der Veränderung des Untersuchungsobjektes abstrahiert wird. Und vieles existiert, ist aber nicht exakt messbar. Die Seele zum Beispiel, Vertrauen, Liebe, Geborgenheit, Freundschaft, Moral, usw. usf. Wir gehen allerdings davon aus, dass diese Dinge existieren, denn wir alle haben irgendwelche Erfahrungen damit.

Ich kann diese Dinge hier im Rahmen einer Zeichnung nicht weiter vertiefen. Nur so viel: Wahrheit ist nicht einfach nur, wie es jüngst ein Redner bei uns auf einem Gästeabend behauptete „eine Fehlkonstruktion“, ein Ding, das es eigentlich gar nicht gibt.
Nun, das postmoderne Denken nach dem Motto „Anything goes!“ hat so seine Schwierigkeiten mit der Wahrheit und der Suche danach. Paul Watzlawick zum Beispiel gab ein anregendes Buch heraus mit Beiträgen zum Konstruktivismus unter dem Titel: „Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben?“ Und der radikale Konstruktivist Heinz Foerster behauptet gar: „Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.“ Die Frage ist allerdings: Was ist er dann selbst, wenn er so etwas als Wahrheit verkündet?

Die Existenz von Wahrheit, und sei sie nur eine relative und zeitlich begrenzte, die Existenz von Wahrheit — und damit ebenfalls von Wirklichkeit, Wissen und Erkenntnis, von Wissenschaft — zu verneinen, hätte erhebliche Konsequenzen. Auch für uns und unser Ritual: Wenn Wirklichkeit nicht existiert und Erkenntnis mittels der Vernunft nicht möglich und alles im Leben nur ein mehr oder weniger beliebiges Konstrukt ist, dann ist auch keine Arbeit an sich selbst, keine Arbeit am Rauen Stein mehr möglich. Erkenne Dich selbst! — Diesen Kernsatz unseres Aufnahmerituals könnten wir dann getrost streichen.

„Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte recht haben.“

Zum 2. Eckstein, der Toleranz:

Unser Bruder Tucholsky hat sie einmal sehr schön definiert: „Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte recht haben.“ Warum? Den Grund hat der große Seelenforscher Sigmund Freud so formuliert: „Es gibt ebensowenig hundertprozentige Wahrheit wie hundertprozentigen Alkohol.“

Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas hat einen Vorschlag gemacht, wie man den Prozess der Suche nach Wahrheit gestalten sollte: „Die Idee der Wahrheit lässt sich nur mit Bezugnahme auf die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen entfalten.“ Mit anderen Worten: Um Wahrheit herauszufinden oder sich ihr zumindest anzunähern, bedarf es einer Kommunikationskultur, braucht es den Streit der Meinungen, den Diskurs. Nebenbei: Da können wir als Freimaurer durchaus ein wenig stolz sein, auf das, was wir in unseren Bauhütten kultivieren.

Nun zum 3. Eckstein, der Humanität:

Bei einer in erster Linie der Humanität, dem Humanismus verpflichteten Wahrheitssuche fallen einige Themen heraus, andere rücken eher in den Fokus. Einige Beispiele: Völlig irrelevant wird zum Beispiel alles, was Menschen in Rassen einteilt, also die Rassenforschung, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert betrieben wurde und im Nationalsozialismus ihren brutalen Höhepunkt fand. Irrelevant wird auch, darüber nachzudenken, wie man Menschen am besten umbringt und tötet, also die gesamte Rüstungs- und Kriegsforschung. Und als 3. Beispiel: Vergessen könnte man dann auch, darüber zu forschen und effektive Maßnahmen zu entwickeln, wie man Menschen möglichst geschickt so manipuliert, dass sie bestimmte Dinge tun und andere nicht tun.
Stärker in den Fokus rücken würden zum Beispiel Fragestellungen, wie: Wie können das Leben und Überleben für alle Menschen auf diesem Planeten gesichert werden? Wie müssen wir da wirtschaften? Wie müssen dafür die uns zur Verfügung stehenden natürlichen und humanen Ressourcen eingesetzt werden? Wie setzen wir welche Technik ein? Wie ermöglichen wir für alle Menschen ein menschenwürdiges Arbeiten und Einkommen? Wie gelingt es uns, den technischen Fortschritt und die dadurch erhöhte Produktivität unserer Wirtschaft für eine radikale Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit einzusetzen? Und wie erreichen wir durch die gewonnene freie Zeit eine bessere Bildung für alle? Und wie sichern wir eine optimalere Beteiligung an demokratischen Entscheidungsprozessen? Usw. usf.

Ihr seht also, wie wichtig es ist, sich genau anzuschauen, von welchen Werten und Interessen die Suche nach Wahrheit geleitet ist.

Einige Dinge habe ich in dieser Zeichnung nur anreißen, andere habe ich gar nicht ansprechen können. Die Bedeutung der Logik zum Beispiel, aber auch die Bedeutung von Vertrauen. Und vor allem die Bedeutung des Zweifelns bei der Suche nach Wahrheit.
„De omnibus dubitandum“ (An allem ist zu zweifeln). Das wussten schon die alten Römer. Unser Bruder Voltaire formulierte das Jahrhunderte später wesentlich drastischer: „Zweifel sind unbequem, aber nur die Idioten haben keine.“
In diesem Sinne: „Weisheit leite den Bau!“ — Nicht Wahrheit!

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 6-2021 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.