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Das „Erkenne Dich selbst“ ist in der Freimaurerei nicht mehr als ein Appell

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Von Uwe Hobohm


Als ich im Jahre 2009 das erste Mal nach einem Gästeabend den Tempel der Wetzlarer Loge betrat, war ich überrascht und erfreut, ein mir wichtiges Motto über der Tür zu finden: „Erkenne Dich selbst.“ Es wird im Allgemeinen Heraklit von Ephesos und dem Buddha zugeschrieben, die es etwa zeitgleich vor 2500 Jahren propagierten. Tatsächlich ist es viel älter und findet sich beispielsweise bereits in den hinduistischen Veden und Upanishaden vor mehr als 3     500 Jahren.

Ich wusste nicht viel über die Freimaurerei. Als jemand, dem buddhistisches Gedankengut nicht nur vertraut, sondern Herzenssache ist, freute es mich, die Aufforderung zur Selbsterkenntnis so prominent vertreten zu finden. Weitere wichtige Eckpunkte schienen mir die sogenannte Arbeit am Rauen Stein zu sein sowie der Bau am Tempel der Humanität. In den Instruktionslogen findet man: „Im Freimaurerbund nimmt das Streben nach … Erkenntnis den höchsten Rang ein.“ Mein Interesse an der Freimaurerei war geweckt. Im April 2010 wurde ich ein Freimaurer.

Im Laufe der Jahre lernte ich insbesondere die gepflegte Gesprächskultur zu schätzen. Das Kerzengespräch: Welch wunderbares Instrument. An Gesprächsabenden lässt man sich ausreden und versucht, wohlwollend und nicht destruktiv zu argumentieren. Natürlich gab es hinter den Kulissen auch mal Hauen und Stechen. Natürlich ging es bisweilen — selten — zu wie im sprichwörtlichen Taubenzüchterverein. Natürlich gibt es manchmal einen, dessen Redebeitrag weder Kernanliegen noch Ende findet, oder den Gebildeten, dessen Wissensschatz kaum Raum im Kopf für Demut erlaubt. Beide geduldig auszuhalten, ist schon ein wenig Arbeit am Rauen Stein. Doch im Großen und Ganzen fühlte ich mich wohl an „unserem Logenabend“, dienstags ab 20 Uhr. Ich fand sogar einige prächtige Burschen, die ich im Laufe der Jahre fast als Freunde bezeichnen würde.

Aus meinen Studien zur Mystik und meiner Kenntnis des Buddhismus schien es mir klar, dass es sich beim Rauen Stein um das Ego handeln muss. Der Abbau des Egos, also die Arbeit am Rauen Stein, kann spirituellen Traditionen zufolge nach viel Mühe und innerer Arbeit zur Selbsterkenntnis führen. Die Selbsterkenntnis als letztes Ziel findet man im Buddhismus, Hinduismus, Taoismus, den verschiedenen Spielarten des spirituellen Yoga, bestimmten Strömungen des Sufismus, im Sikhismus, den Aussagen der Mystiker oder dem Wirken mancher Mönchsorden und anderen Geistesschulen.
Indem man andere Menschen auf den spirituellen Weg der Selbsterkenntnis bringt, baut man am Tempel der Humanität. Die drei Eckpfeiler der Freimaurerei: Rauer Stein, Tempelritual und Selbsterkenntnis, schienen also folgerichtig miteinander verknüpft, so nahm ich damals an. Ich war nun gespannt, wie die Arbeit am Rauen Stein aussehen würde.

Ich bekam nie eine Antwort.

Für mich selbst war das nicht tragisch. Ich hatte und habe meinen eigenen Weg, der sich aus dem Kern mystischer Traditionen ergibt. Aber was ist mit den Brüdern, die solche Wege nicht kennen und deshalb möglicherweise in der Freimaurerei suchen? Jedenfalls wird das immer wieder von Suchenden bestätigt: Ja, ich komme zur Freimaurerei auch aus dem Bedürfnis einer gewissen spirituellen Beschäftigung. Es haben Brüder unsere Loge verlassen, weil dieses Bedürfnis nicht befriedigt wurde.

Wir sind keine Religion, verlangen aber das Bekenntnis zu einer höheren Kraft und reklamieren einen spirituellen Hintergrund. Insofern ergäbe es schon Sinn, in den spirituellen Geistesschulen mindestens nachzuschauen, was dort als Äquivalent des Rauen Steins zu finden ist. Und vielleicht sogar das eine oder andere Werkzeug zu seiner Bearbeitung aufzunehmen.

In den genannten Geistesschulen sind die Werkzeuge zur Arbeit am Rauen Stein – am Ego — und wie man die Werkzeuge verwendet, zwar unterschiedlich, aber jeweils gut definiert. Es ist hier nicht der Ort, um diese Werkzeuge aufzuführen, sie können einfach nachgeschlagen werden. Jedenfalls bleiben derlei Werkzeuge in der Freimaurerei, wenn überhaupt, vage, opak. Im Vergleich zu den spirituellen Geistesschulen ist der Werkzeugkasten leer.
Nun kann man sich die Sache natürlich vereinfachen und die Arbeit am Rauen Stein privatisieren und in die Selbstverantwortung der einzelnen Brüder verweisen. Man kann den Mangel zum Prinzip schönreden. Wenn man herumfragt: Wie sieht Deine Arbeit am Rauen Stein aus, wird man unter einem Dutzend Brüdern zwölf unterschiedliche Antworten finden — oder keine. Aber kann dieser Zustand gesund sein, wenn die Arbeit am Rauen Stein in der Freimaurerei obere Priorität hat? Oder umgekehrt gefragt: Wenn der Werkzeugkasten so enttäuschend leer ist, sollte man sich nicht ehrlich machen und die Arbeit am rauen Stein herunterpriorisieren? Oder noch anders gefragt: Wenn die Arbeit am Rauen Stein nicht gelehrt wird, sie abgesehen von vagen Appellen nicht realer Teil freimaurerischer Praxis ist, handelt es sich dann nicht um eine Illusion und eine Selbstüberschätzung, wenn man behauptet, die Arbeit am Rauen Stein sei einer unserer wichtigsten Eckpfeiler? Wenn man von Außenstehenden gefragt wird, was macht ihr denn so in der Freimaurerei, so könnte eine unter Freimaurern vermutlich allgemein akzeptierte Antwort lauten: Wir arbeiten an dem, was wir den Rauen Stein nennen, mit dem Ziel des „Erkenne Dich selbst“. Aber stimmt das?

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Tempel der Humanität. Wo ist er? Ich habe ihn noch nicht gesehen. Wir lassen ab und an einen Promi zu uns sprechen und sonnen uns in dessen Bekanntheit. Wir spenden hie und da und bekommen dann eine gewisse Aufmerksamkeit in der örtlichen Presse und es entsteht ein Gefühl von Wichtigkeit. Aber das hat nichts mit dem altruistischen, idealerweise anonymen Helfen zu tun, das das Ego eben nicht füttert, so wie es alle spirituellen Traditionen lehren. Gotthold Ephraim Lessing, der sich in „Ernst und Falk“ kritisch mit der Freimaurerei auseinandersetzte, schreibt dazu:

Falk: […] Vielleicht, dass alle diese guten Taten, die du mir da genannt hast, um mich eines scholastischen Ausdrucks, der Kürze wegen, zu bedienen, nur ihre [der Freimaurer] Taten ad extra [Beiwerk] sind.Ernst: Wie meinst du das?
Falk: Nur ihre Taten, die dem Volke in die Augen fallen: – nur Taten, die sie bloß deswegen tun, damit sie dem Volke in die Augen fallen sollen.

Es steht für mich außer Frage, dass die Freimaurerei ursprünglich einen spirituellen Ansatz hatte. Ansonsten gäbe es die Bastionen Rauer Stein und Selbsterkenntnis nicht. Aber der Ansatz scheint mir verloren und war es wohl schon vor 250 Jahren, wenn Lessing im Folgenden beklagt, Freimaurer würde man nicht durch die bloße Aufnahme, sondern durch Erkenntnis (eckige Klammern sind meine Interpretation):

Falk: Ich glaube ein Freimäurer zu sein; nicht sowohl [= deshalb], weil ich von älteren Maurern in einer gesetzlichen Loge aufgenommen worden: sondern weil ich einsehe und erkenne, was und warum die Freimäurerei ist, wann und wo sie gewesen, wie und wodurch sie gefördert oder behindert [!] wird.
Ernst hakt nach, warum Falk nur glaube, ein Freimaurer zu sein, sich also offenbar nicht sicher sei.
Ernst: Und drückst Dich gleichwohl so zweifelhaft aus? – Ich glaube einer zu sein!
Falk antwortet sinngemäß, weil der Begriff von anderen, die weniger vom Geist der Freimaurerei verstanden hätten, besetzt sei:
Falk: Dieses Ausdrucks bin ich nun so gewohnt. Nicht zwar, als ob ich Mangel an eigener Überzeugung hätte: sondern weil ich nicht gern mich jemandem gerade in den Weg stellen mag [ein Besserwisser sein mag].

Ernst versteht immer noch nicht ganz und nimmt an, wenn man aufgenommen wurde, würde man doch in das freimaurerische Wissen eingeweiht und wüsste deshalb genau, was Freimaurerei bedeutet und was nicht.

Ernst: Du bist aufgenommen, du weißt alles —
Falk sagt nun deutlicher, was er meint.
Falk: Andere sind auch aufgenommen, und glauben zu wissen.
Ernst: Könntest du denn aufgenommen sein, ohne zu wissen, was du weißt?
Falk: Leider!
Ernst: Wieso?
Falk: Weil viele, welche aufnehmen, es [den spirituellen Kern] selbst nicht wissen; die wenigen aber, die es wissen, es nicht sagen können [die letzte spirituelle Wahrheit, der Zustand nach der endgültigen Selbsterkenntnis, ist nach Aussage aller Mystiker kaum durch Worte vermittelbar, sie transzendiert das Wort].

Leider, meint Falk hier, könne man aufgenommen werden ohne Überprüfung einer spirituellen Neigung oder Einsicht, die nach Lessing den wahren Kern der Freimaurerei bildet.

Illusionen loszuwerden, zu verbrennen, ist in vielen spirituellen Traditionen elementarer Teil spiritueller Arbeit, um der Selbsterkenntnis näher kommen zu können. Ist nicht die ständige Reklamation der Arbeit am Rauen Stein bar jeder Anleitung lediglich eine Illusion, die man loswerden sollte?
Manche sprechen vom Zauber der Tempelarbeit. Richtig ist, dass es in vielen, vielleicht allen spirituellen Traditionen Rituale gibt. Deren Ablauf übrigens nicht geheim gehalten wird und dennoch nicht ein Gran an Wirksamkeit verliert. Im Ritual ordnet man sich unter, was in gewisser Weise dem Ego entgegenwirkt, und viele Seelen versammelt im Raum schwingen im Gleichklang, wenn es gut läuft. An dem Punkt, dem Ritual, kann die Freimaurerei, salopp ausgedrückt, mithalten. Wenn aber, anders als in den Geistesschulen, das Ritual nicht untermauert wird durch einen Lehrplan und die praktische Arbeit der Selbsterkenntnis, dann hängt es freischwebend und hohl in der Luft.

Und so frage ich mich: Wo sind wir mehr als ein Club weitgehend netter Männer mit Manieren? Oder positiv gefragt: Haben wir es nötig, mehr sein zu wollen als ein Club weitgehend netter Männer — ist das nicht genug?

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 6-2022 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.