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Die Macht der Gewohnheit

© Yury Zap / stock.adobe.com

Von Samuel Langhorne Clemens kennen wir die oft zitierte Einschätzung: “Eine Angewohnheit kann man nicht aus dem Fenster werfen. Man muss sie die Treppe hinunterprügeln, Stufe für Stufe.” Das dürfte jedermann, und jede Frau, wohl sofort unterschreiben – Gewohnheiten sind oftmals ebenso unscheinbar wie mächtig.

Von Ulrich Felsmann

Samuel Clemens wird unter seinem Pseudonym Mark Twain einer der profiliertesten amerikanischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, und Ernest Hemingway vertritt die Meinung, dass „die gesamte amerikanische Literatur von einem Buch namens Huckleberry Finn abstammt“. Er führt ein bewegtes Leben, und wird in St. Louis bei der Freimaurerloge „Polar Star Lodge No 79“ aufgenommen, der er sieben Jahre lang verbunden bleibt. 

Mark Twain gilt als klassisches Beispiel eines schweren Trinkers; er hält sich bei seinem Alkoholkonsum an zwei Regeln: Erstens trinkt er nie allein und zweitens lehnt er nie ein Glas ab, das ihm angeboten wird. Gewohnheiten sind unfassbar stabil und hartnäckig, die Grenzen zur Sucht sind fließend und werden leicht überschritten. 

Worin besteht die Macht der Gewohnheit? Was macht sie so stabil, dass auch überwunden geglaubte Gewohnheiten, wie das Trinken von Alkohol problemlos zurückkehren können? 

Nun, Gewohnheiten unterstützen offenbar ein erfolgreiches Leben, sie entlasten unser Gehirn und sorgen für schnelle Reaktionen. Sind uns Herausforderungen und Aufgaben bekannt und sich immer wieder sehr ähnlich, lernen wir recht schnell, effizient damit umzugehen. Das zeigt sich schon in den vielen Kleinigkeiten unseres typischen Alltags, der wahrscheinlich immer gleich beginnt: Die Art und Weise, wie wir aufstehen, duschen oder uns die Zähne putzen, Kaffee oder Tee zubereiten. 

Wenn wir genau hinschauen, verläuft ein großer Teil unseres Tages in festen Bahnen, in denen Denken und Abwägen keine Rolle spielen. „Zwischen 30 und 50 Prozent unseres täglichen Handelns werden durch Gewohnheiten bestimmt, Informationen ändern daran so gut wie nichts“ – das sagt Bas Verplanken, Professor für Sozialpsychologie an der University of Bath in England, der seit über 20 Jahren auf diesem Gebiet forscht. 

Gewohnheiten sind regelmäßige Verhaltensweisen, die von einer bestimmten Situation spontan ausgelöst werden und dann gleichförmig und vom Bewusstsein weitgehend unkontrolliert ablaufen. Wenn sie mit unseren Zielen übereinstimmen, sind sie uns nützlich, manchmal sogar überlebenswichtig. Tun sie das nicht, stören sie oft nur, rauben uns Zeit, Energie und manchmal schädigen sie auch unsere Gesundheit. 

Gewohnheiten benötigen wenig Aufmerksamkeit und ermöglichen es damit, parallel dazu auch andere Dinge zu tun – und schon ist die Mär vom Multitasking geboren, das zeitweise ja als echter Mehrwert für ein effizientes Leben angesehen wurde. 

Das Gehirn unterscheidet nicht zwischen guten und schlechten Gewohnheiten. Hat sich ein Verhalten einmal eingeschliffen, ist es schwierig, es zu ändern, auch wenn wir uns das fest vornehmen. Trotzdem – oder gerade deshalb – können wir uns Gewohnheiten zunutze machen. Wer weiß, wie ihre Mechanismen funktionieren und wo sie ansetzen, der kann sie auch verändern. 

Das nutzen natürlich auch die Profis im Marketing oder der Personalführung: Wer die richtigen Bedingungen schafft, kann Konsumenten oder Mitarbeiter dazu bringen, genau die Gewohnheiten auszubilden, die den gewünschten Zielen dienen. Selbst physisch können dadurch Veränderungen herbeigeführt werden. Am Brain and Cognitive Sciences Department des Massachusetts Institute of Technology wurde aufgezeigt, was sich bei der Konditionierung von Ratten in deren Gehirnen veränderte: Die Areale, die für komplexe Denkprozesse und Entscheidungen zuständig sind, hörten auf zu arbeiten. Aktiv blieben nur Bereiche tief im Gehirninneren, die man früher mit Reflexen und Instinkthandlungen in Verbindung gebracht hat: die Basalganglien. Heute ist die Meinung verbreitet, dass sie eine Art Handlungsgedächtnis darstellen, in dem alle Bewegungsmuster abgelegt sind, die sich irgendwann einmal als erfolgreich erwiesen haben. Die Basalganglien aktivieren dann die gewohnten Muster, während der Rest des Gehirns ruht. 

Der Hirnforscher Gerhard Roth verdeutlicht das so: „Die Konfrontation mit neuen und komplizierten Dingen erfordert Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Konzentration – das Gehirn strebt darum danach, alles zu routinisieren. Gewohnheiten sind sowohl stoffwechselbiologisch als auch neuronal billig.“ Wir müssen dann nicht mehr über grundlegende Verhaltensweisen nachdenken, etwa über das Gehen. Dafür steht uns mehr mentale Energie zur Verfügung, um anderes zu tun. So können wir uns auch in Stresssituationen darauf verlassen, dass wir das Zähneputzen nicht vergessen oder den Weg zur Arbeit finden. 

Und genau dieses Einsparen von Energie macht es uns so schwer, unser Verhalten zu ändern. Mit dem Alter nimmt die Zahl der Gewohnheiten zu. Erwachsene gewöhnen sich daran, sich auf eine bestimmte Art zu kleiden, zum Kaffee eine Zigarette zu rauchen oder den Müll zu trennen. Wir wachsen in Strukturen und in bestimmte Rollen hinein. Am Anfang haben wir noch darüber nachgedacht, wie wir uns im Meeting am besten verhalten oder wie der Haushalt aufgeteilt werden sollte – und eines Tages brauchen wir das dann nicht mehr. 

Wolfram Schultz, Professor für Neurowissenschaften an der University of Cambridge, bezeichnet Gewohnheiten als „kleine Süchte“ und erklärt dazu: „Wenn wir die Erfahrung machen, dass ein bestimmtes Verhalten zu einer Belohnung führt, wiederholen wir es möglichst oft.“ Nach einiger Zeit wird unser Gehirn das, was es kennt, verstärken, indem es Botenstoffe ausschüttet, durch die wir uns besonders wohlfühlen. Beim Zähneputzen zum Beispiel kann die Belohnung in dem guten Gefühl liegen, glatte, saubere Zähne zu haben. Diese Belohnungen führen zu einem Verlangen, das sich neuronal verankert und das Gehirn tatsächlich verändert. 

Gewohnheiten sind zunächst einmal nicht grundsätzlich schlecht, und wir sprechen auch gerne von unseren lieben Gewohnheiten. Die andere Seite der Medaille ist die Einschränkung unserer Wahrnehmung. Den vertrauten Weg zur Arbeit nehmen wir vielleicht jahrelang, ohne wahrzunehmen, was rechts und links davon geschieht und ohne uns zu fragen, ob es inzwischen vielleicht einen besseren Weg gibt. Wenn Menschen mit stark routinierten Verhaltensweisen sich einmal für oder gegen ihre Gewohnheit entscheiden müssen, verzichten sie leider oft auf wichtige Informationen und bleiben bei ihrer Gewohnheit. 

Ein anschauliches Beispiel für dieses Phänomen ist die Anschnallpflicht im Auto. 1976 wird in Deutschland die Gurtpflicht eingeführt, die von vielen als Ausgeburt staatlicher Regelwut angesehen wird. Erbitterte Gegner führen Bedenken ins Feld, die aus heutiger Sicht sonderbar anmuten: Komme ich bei einem Unfall schnell genug aus dem Fahrzeug? Verletzt mich der Gurt nicht eher? Wird mein Busen platt gedrückt? Zerknittert der Gurt nicht das Hemd oder die Bluse? Ohne Witz: Das waren die Ängste in den 60er und 70er-Jahren! Und heute: absolut kein Thema mehr! Dank der Gewohnheit, sich anzuschnallen, überleben hierzulande etwa 2.000 Menschen jährlich einen Unfall, bei dem sie sonst gestorben wären. 

Allerdings: Das Pendel darf auch nicht zu weit in die andere Richtung ausschlagen. Während meiner Tätigkeit bei einem großen Automobilhersteller war ich unter anderem auch für die Arbeitssicherheit im Presswerk zuständig. Die Arbeit an großen Karosserie-Pressen und schnellen Stanzautomaten war immer schon sehr unfallträchtig. Vor allem durch den Einsatz von immer mehr technischen Sicherheitseinrichtungen haben wir aber die Anzahl folgenschwerer Betriebsunfälle fast auf Null bringen können. Die Mitarbeiter konnten gewissermaßen blind und taub durch die Hallen laufen, im Falle einer unsicheren Situation wurde alles sofort gestoppt. Und genau dieses Extrem war ein Fehler: Die Leute haben sich schnell daran gewöhnt, dass eigentlich nichts passieren kann – sie wurden unvorsichtig und unachtsam. Und wie das so ist in der realen Arbeitswelt: Irgendwo ist dann etwas eben doch nicht abgesichert, und schon ist’s passiert. Die Unfallzahlen stiegen wieder, obwohl die Sicherheitstechnik kaum zu toppen war. In der Folge wurde dann das Übermaß an Lichtschranken und allen möglichen anderen Sicherheitseinrichtungen wieder zurückgefahren, natürlich im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben. Die Mitarbeiter an den Anlagen mussten sich wieder daran gewöhnen, Augen und Ohren zu öffnen – und das funktionierte auch sehr gut. 

Die Macht der Gewohnheit wird nicht nur deutlich in dem, wie wir handeln – schon unsere Überlegungen werden vielfach von Denkgewohnheiten gesteuert, womit wir rasch bei dem sind, was wir Vorurteile nennen. Schon als Kind werden wir von unseren Eltern geprägt und übernehmen das, was uns vorgelebt wird – zumindest bis zur Pubertät und unserem jugendlichen Auflehnen gegen die Elterngeneration. Diese Möglichkeit, Menschen zu prägen, wurde und wird auch gerne für Ziele genutzt, wie sie etwa die Jesuiten proklamierten: „Gebt mir ein Kind die ersten sechs Lebensjahre, und es gehört ein Leben lang der Kirche.“

Gewohnheit und Veränderung muss sich aber nicht ausschließen, manchmal wird das eine sogar durch das andere bedingt. Ich erinnere mich noch gut an den Campus der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg, neu angelegt Ende der 1970er-Jahre. Die gepflasterten Wege entsprachen offensichtlich nicht den Bedürfnissen der Studenten, die sich schnell ihre eigenen Trampelwege durch die Grünanlagen geschaffen hatten. Kaum zu glauben, aber ich habe es erlebt, dass solche Trampelwege nachträglich gepflastert wurden – Veränderungen, initiiert durch Gewohnheit. 

Gewohnheit ist aber auch der Kern von Traditionen. Die heiligsten Schreine des Shinto-Glaubens auf der japanischen Halbinsel Shima werden alle 20 Jahre neu errichtet. 2013 wurde der 62. Neubau fertiggestellt. Der rituelle Abriss und der detailgetreue Wiederaufbau der kilometerweit verstreuten Tempelanlagen symbolisieren im Shintoismus Tod und neues Leben. Zugleich wird durch den seit vielen Jahrhunderten unveränderten Ritus sichergestellt, dass die traditionelle Kunst, einen solchen Schrein zu errichten, nicht verloren geht. So zeigt sich in der Gewohnheit auch der Charakter des Bewahrenden: Sie schützt, was wertvoll ist und erhalten werden soll. 

Oder, um es mit Johann Nepomuk Nestroy auszudrücken, dem österreichischem Dramatiker, Schauspieler und Bühnenautor: „Der Mensch ist mit der Gewohnheit verwachsen, das Atemholen ist auch nur eine Gewohnheit; wenn man sich’s aber abgewöhnt, ist man hin.“