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Die Wahrheit im Umbruch

Von Arved Hübler


Nach der Philosophie kommt die Physik

„Heute sind alle aufgeklärt, jedenfalls all die, die irgendwie aufklärbar sind“, hieß es in dem 2001 erschienen Aufsatz „Die Loge als Oberammergau der Aufklärung“.

Womit behauptet wurde, dass die humanitäre Freimaurerei am Ende ihrer Entwicklung angekommen sei, da sich die Ziele der Aufklärung verwirklicht hätten. So gäbe es auch keine wirkliche Aufgabe mehr für die Freimaurerei, außer vielleicht eine aufklärerische Erinnerungskultur zu betreiben und dem einen oder anderen Nachzügler Nachhilfe zu geben. Die Aufklärung wäre, um es mit Fukuyamas prägnantem Buchtitel der 1990er Jahre vom „Ende der Geschichte“ zu formulieren, ein quasi paradiesischer Endzustand, nach dem nichts Neues mehr kommen kann. Eine Einstellung, die über ziemlich alle politischen Schattierungen hinweg in unserer Gesellschaft verbreitet zu sein scheint: Es soll sich nichts mehr ändern. Es stirbt keine Art mehr aus, das Klima wandelt sich nicht, es werden keine Staatsgrenzen mehr verschoben, die Bevölkerung bleibt so deutsch wie bisher. „Das bleibt alles so, wie’s hier ist“, fordert ein beliebtes Meme in den sozialen Medien.

Diese Vorstellungen sind wohl Wunschdenken, denn wenn man etwas aus der Geschichte lernen kann, dann doch, dass sich die Welt immer ändert. Die verschiedenen Varianten der heutigen Spätaufklärung könnten so auch als rastlose Versuche gewertet werden, die vielleicht zu Ende gehende Epoche der Aufklärung am Leben zu halten, gerade weil wir kollektiv einen nicht erwünschten Umbruch wahrnehmen.

Damit ergeben sich für den aufgeweckten Freimaurer überraschende, sehr interessante Fragen: Soll man an der Aufklärung festhalten und diese nach bestem Vermögen wetterfest machen, damit sie weiterhin lange durchhält, weil man als humanitärer Freimaurer ein Kind der Aufklärung ist und gar nicht anders kann? Oder fühlt man sich als Freimaurer dem Anspruch verpflichtet, vom Beginn der Welt bis ans Ende der Zeiten am wohltätigen Einfluss der wahren Maurerei mitzuwirken? Dann wäre die Aufklärung nur eine Episode, nach der es irgendwie anders weitergehen wird. Aber wie?

Wahrheit und Aufklärung?

Im Folgenden soll die erste Frage gar nicht entschieden werden und jedem Bruder selbst überlassen sein. Allerdings wird die zweite Frage nach dem Wie, ob also etwas Neues nach der Aufklärung kommen könnte, kaum offen diskutiert. Eine Welt der Postaufklärung, die sich signifikant zu heute verändert hat, stellen sich die meisten Menschen nur pauschal als Dystopie vor, als undenkbare Katastrophe, die es zu verhindern gilt. Dass es nach einem Überwinden der aufgeklärten Epoche besser werden könnte, und wie man das erreichen kann, kommt nicht vor. Deshalb soll hier im Weiteren nur über diesen wenig beachteten Fall spekuliert werden: Dass die Aufklärung vorbei ist, aber kein Weltuntergang eintritt, sondern sich die Dinge zum Besseren wenden. Wie realistisch diese Spekulation ist, sei dahingestellt.

Historisch war die frühe Aufklärung eine fundamentale Opposition gegen religiöses Denken sowie die darauf aufbauende, feudale Gesellschaftsordnung. Der Erfolg und große Wert dieser aufklärerischen Weltsicht in Form der freien Gesellschaft und des freien Menschen kann gar nicht überschätzt werden. Doch inzwischen ist die aufgeklärte Freiheit des individuellen Denkens und Tuns von dem spätaufklärerischen Leitbegriff der „Toleranz“ abgelöst worden. An der Toleranz gegenüber den Religionen inklusive des intoleranten Islam zeigt sich, auch exemplarisch für viele andere Problemfelder, die Inkonsistenz der aufgeklärten Philosophie. In der komplexen Moderne sind immer mehr, zum Teil gravierende Widersprüchlichkeiten festzustellen, die mit Toleranz nicht gelöst, sondern letztlich ignoriert werden. Damit „funktioniert“ die spätaufgeklärte, zeitgenössische Philosophie immer weniger. Eine aktuelle, lesenswerte Zusammenstellung dieser ausgedehnten spätaufgeklärten Diskrepanzen hat die Frankfurter Ethnologin Susanne Schröter unter dem Titel „Global gescheitert?“ vorgelegt. Auch wenn Schröter sehr akribisch und wohltuend unparteiisch viele Beispiele analysiert, kann sie am Ende auch nur simple Verhaltensregeln als Lösung anbieten. Symptomatisch für die Diskrepanz ist, dass sie sich auch selbst widerspricht. So meint sie auf der einen Seite mit Stuart Mills, dass der Freiheitswunsch Bestandteil der menschlichen Natur sei (S. 202), ein Seite weiter jedoch, dass diese Annahme empirisch gesehen falsch sei.

Diese Unstimmigkeiten lohnen es, sich kurz den aufgeklärten Erkenntnisprozess, also letztlich die „Wahrheitsfindung“, anzuschauen. Der Ansatz der Aufklärung, als Quelle der Wahrheit nicht eine göttliche Instanz, sondern die menschliche Vernunft einzusetzen, war revolutionär. Der auch von Freimaurern vielzitierte Kant‘sche Imperativ, nach dem man sich Kraft seines eigenen Denkens aus der Unmündigkeit befreien soll, hatte immense Attraktivität und konnte vielen Menschen die Augen öffnen. Die zentrale Neuerung war die Kritik, also das Hinterfragen von geglaubten Selbstverständlichkeiten. Doch mit dem heutigen Abstand zu dieser frühaufklärerischen Umwälzung muss man nüchtern feststellen, dass der Fortschritt gar nicht so groß war, wie er den Frühaufklärern erschien. Denn denkt man die Dinge zu Ende, dann ist — im aufgeklärten Paradigma — auch ein Gott nur das Resultat menschlichen Denkens. Man kann nun trefflich streiten, ob es besser ist, sich einen Gott auszudenken und diesem dann Gebote für die Gesellschaft zuzuweisen, oder ob man sich die Gebote, etwa in Form der Deklaration der Menschenrechte, direkt ausdenkt. Beides wäre ein Resultat des menschlichen Denkens.

So ist am Ende auch die aufgeklärte Position, Religionen seien unvernünftig, die Aufklärung hingegen vernünftig, überzogen. Denn inzwischen weiß man, sowohl Religionen wie auch die aufgeklärten Philosophien sind in viele Widersprüchlichkeiten verstrickt. Der enorm positive Effekt der Aufklärung war nicht die bessere Vernunft, nicht die tiefere Wahrheit, sondern die Demokratisierung des Denkens. Nicht nur einige religiöse Würdenträger, sondern jeder sollte nun Wahrheitsfindung betreiben. So kamen viele freie Geister zu Wort, die in religiösen Systemen bestenfalls ungehört versauert, schlimmstenfalls im Christentum verbrannt oder im Islam geköpft worden wären. Einfach nur rein statistisch hat diese Entfesselung des Denkens durch die Aufklärung viele kluge Ideen befördert, die den Erfolg dieser Entwicklung begründet haben. Inzwischen, wo im erreichten Wohlstand auch jeder Dummkopf die Muße zum Philosophieren finden kann, verursacht diese Entfesselung hingegen ganz neue Probleme.

Die Wahrheit der Physik

Wenn also die Philosophie der Aufklärung wie auch die Religionen ihre jeweilige Wahrheitsfindung gleichermaßen mit mehr oder weniger vernünftigem Denken betreiben, sind sie auch mit den gleichen Problemen konfrontiert.

Allgemein wird Vernunft immer mit logischem Argumentieren assoziiert, eine unfallfreie Argumentationskette wird gerne als „richtig“ oder „wahr“ angesehen. Allerdings ist das nichts Besonderes. Fast jeder, auch der gläubige Mensch, denkt streng logisch. Viel wichtiger als die Logik der Argumentation sind die Annahmen, die dort einfließen. Diese Annahmen sind frei wählbar und werden im Kopf des Denkenden geschöpft. Sie können versteckt oder offengelegt, subjektiv, interessengeleitet, verblendet und sonst wie seltsam, naheliegend oder überzeugend sein. Die Qualität des vernünftigen Denkens wird besonders durch die Qualität dieser Annahmen und nur zum Teil durch die logische Argumentation geprägt. Mit unterschiedlichen Annahmen kommt auch nach richtigem logischem Argumentieren Unterschiedliches heraus. Und so können sich Dekonstruktivisten, Liberale, Kommunisten und viele andere philosophische Strömungen — inzwischen selbst religiöse Theoretiker — widerspruchsfrei auf die Aufklärung beziehen, wenn sie geschickte Annahmen haben. Diese spätaufgeklärte Kakophonie macht die Wahrheitsfindung nicht einfacher.

Die Naturwissenschaften und insbesondere ihr orthodoxer Kern, die Physik, widmen sich nun diesem Problem der Annahmen besonders intensiv. Bei der Akzeptanz der Ausgangsannahmen oder Rahmenbedingungen ersetzt die Physik allerdings den Geist des Menschen durch die objektive Realität. Dabei hat die Physik in ihrer vierhundertjährigen Entwicklung seit dem Erscheinen von Francis Bacons fundamentalen Buch „Novum organum scientiarum“ (Neues Werkzeug der Wissenschaft) ein sehr differenziertes und erfolgreiches Konzept der objektiven Realität entwickelt. Es ist der durchgehende Ansatz der Physik, jedes Subjektive und Beliebige der Annahmen Schritt für Schritt auszuschalten und die daraus folgenden Fehler immer weiter zu reduzieren. Bei einem guten Ergebnis zählt in der Physik regelmäßig die Fehlerbetrachtung und die Offenlegung der verbliebenen subjektiven Einflüsse fast mehr als das Ergebnis selbst. Denn nicht selten sind die Abweichungen von dem Erwarteten Ausgangspunkte für neue Erkenntnisse. Mit vielen, inzwischen ausgefeilten Methoden werden die Annahmen vermessen, geprüft und verprobt. Und trotzdem sind viele Arten von Fehlern nie zu vermeiden. In der Physik ist weniger eine absolute Wahrheit wichtig, sondern der Prozess der Wahrheitsfindung, der kontinuierlich zu immer besseren Wahrheiten, also zu fortschreitender Erkenntnis führt. Was sich für manchen Außenstehenden dann doch wahllos anhört, endet jedoch in Naturgesetzen, deren Fundamentalität und rigorose Gültigkeit weit über die Glaubensannahmen der Philosophen und Theologen hinaus reichen.

Und genau wie die Religionen und die aufgeklärten Philosophien baut die physikalische Argumentation auf der Logik auf. Im Unterschied zu den beiden ersteren stützt sich die Physik jedoch auf eine viel abstraktere und damit komplexere Darstellungsform der Wirklichkeit, auf die Mathematik. Können Religionen und Philosophien die Realität nur in der einfachen Sprachlogik fassen, ermöglicht die mathematische Sprache eine Repräsentation der Realität in deren natürlicher, angemessener Komplexität. Während George Orwell in „1984“ seine Tyrannei mit dem Konzept „Double think“ die engen Grenzen der Sprachlogik überwinden ließ, versuchen heute Andere die Logik unter dem Begriff „Polylogik“ aufzuweichen, mit erwartungsgemäß traurigen Ergebnissen. Wer eine unbedingte Logik erhalten, aber komplexere Zusammenhänge exakt formulieren will, wird um die mathematische Sprache nicht herumkommen. So haben sich die Physik und die Philosophie hinsichtlich ihrer Sprache schon früh getrennt, indem die Philosophen zunehmend Platons Credo missachteten, dass die akademische Anstalt nur der betreten dürfe, der der Höheren Mathematik mächtig sei (freie Übertragung des angeblichen Spruchs am Eingang der Athener Akademie).

Den zweiten und vollständigen Teil des Bruchs zwischen Physik und Philosophie hat dann Bacon mit der Forderung nach allzeit realitätsgeprüften Annahmen/Randbedingungen vollzogen. Da dies parallel zu dem Bruch stattfand, den die aufgeklärte Philosophie gegenüber der Religion verursachte, wird landläufig die Physik als ein Teil der Aufklärung gesehen. Das ist jedoch irreführend, denn in dem Konzept der Wahrheitsfindung steht die Physik konträr zu allen religiösen und philosophischen Ansätzen. Trotzdem werden die Naturwissenschaften bisher eher als ein oft suspektes, ja manchmal bedrohliches Anhängsel der Aufklärung angesehen, welches für die Glühbirne, das Auto, den Herzschrittmacher, das Smartphone und vieles mehr in der modernen Realität notwendig scheint. So sind die Physik und die Naturwissenschaften zwar in den letzten Jahrhunderten im Schatten und unter dem Schutz der Aufklärung groß geworden, der wesentliche Unterschied, der auch schon von Beginn an zu Reiberei und Missmut auf beiden Seiten führte, wurde jedoch nicht herausgestellt.

In der Vergangenheit hat sich die Physik mit ihrem Wahrheitskonzept allerdings auch nur auf die nichtmenschliche Welt beschränkt, während die Philosophie und die Religionen unter sich streiten konnten, wer den menschlichen Geist und seine Gesellschaftsformen besser bewirtschaftet. Für physikalische Methoden war dieses Feld bisher auch kaum zugänglich, was sich jedoch inzwischen ändert: Mit der tiefen Digitalisierung aller Lebensbereiche werden Menschen und Gesellschaften messbar und transparent. Was heute noch eine kommerzielle Goldgrube der Digitalkonzerne ist, wird vielleicht in der Folge ein Eindringen der Informations-, System-, Evolutions- und Komplexitätstheorien in den angestammten Bereich der Philosophie und aller Geistes- und Gesellschaftswissenschaften bedeuten.

Insofern wäre es ein durchaus denkbares Szenario, dass die philosophisch schlingernde Spätaufklärung durch die Physik, also im weiteren Sinne durch die Naturwissenschaften oder noch umfassender durch MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) abgelöst wird. Da schon heute die meisten gesellschaftliche Themen — vom Datenschutz über die künstliche Intelligenz, die Energieversorgung, den Umgang mit der menschlichen Gesundheit und andere — von physikalischen Fakten dominiert werden, stellt sich diese Frage nach der Methode der Wahrheitsfindung um so dringender. Kann man tatsächlich solche Fragen mit philosophischen Methoden erfolgreich beantworten, oder geht das nur mit einem strikt physikalischen Denken? Die der aufgeklärten Philosophie verpflichtete Mehrheit wird wohl nicht akzeptieren, dass man geistes-, sozial-, gesellschafts-, kulturwissenschaftliche und ähnliche Bereiche mit einem physikalischen Denken angehen könnte. Und andersherum werden nicht alle Naturwissenschaftler die Notwendigkeit sehen, ihre angestammten Forschungsfelder in diese Richtung zu erweitern.

Ob so dem Ansatz, das physikalische Denken auf die gesamten menschlichen und gesellschaftlichen Phänomene auszudehnen, Erfolg beschieden ist, bleibt vage. Doch wer Naturwissenschaften als positive Erkenntnismethode sowie die Mathematik als eine naheliegende, praktische Sprache ansieht und im Vergleich zu Wunschwelten die viel größere Inspiration in der Realität findet, der müsste eigentlich Feuer fangen. Er müsste die Fackel der Wahrheit diesem in der Realität aufgehenden Licht der Erkenntnis entgegenstrecken. Eigentlich etwas für Freimaurer.

Freimaurerei und Physik

Da kommt die für viele überraschende Nachricht, dass die moderne Freimaurerei eigentlich ein Kind der Physik ist, wie gerufen. Das inzwischen seit hunderten Jahren kanonische Bild von der Entstehung der ersten Großloge 1717 in England blendet nämlich manches aus. Richard Berman hat in seiner Doktorarbeit nachgewiesen, dass in der frühen Phase der englischen Großloge eine sehr enge personelle Durchdringung mit der naturwissenschaftlichen Royal Society bestand. Etwa 30% bis 45% der Fellows der Royal Society sollen laut Berman Freimaurer gewesen sein, auch ihr Sekretär, Vizepräsident und Präsident waren zeitweise Freimaurer. Andersherum waren zwischen 1721 und 1741 von den zwanzig Großmeistern der englischen Großloge 60% Fellows der Royal Society. Die beiden Londoner Logen „Bedford Head“ sowie „Horn Lodge“ galten als Wissenschaftslogen, etwa 25% ihrer Mitglieder waren gleichzeitig Fellows der Royal Society.

Der bekannte John Theophilus Desaguliers war nicht nur ein Motor der Londoner Freimaurer, der als Großmeister und zugeordneter Großmeister prägend war und James Anderson den Auftrag für die Niederschrift der „Constitutions“ gab. Desaguliers war auch Vertrauter und Kommunikator von Isaac Newton, der bis zu seinem Tod 1727 Präsident der Royal Society war. Newton hatte in seinem Buch „Philosophia Naturalis Principia Mathematica“ bis heute gültige, bahnbrechende Grundlagen der Physik gelegt. Desaguliers veranstaltete gut besuchte mechanische Vorführungen, besonders auch in Logen, in denen er das neue Denken sowie die Visionen für zukünftige Anwendungen verbreitete. Die „Newtonians“, also die Anhänger dieser Ideen zogen so auch neue Mitglieder für die Logen an. In der Folgezeit wurde die Newton‘sche Physik in Eisen- und Kohleminen zur Mechanisierung eingesetzt, womit die industrielle Revolution ihren Ausgang nahm und lange Zeit eine führende Rolle Englands sicherte. Der große Zulauf zu dieser naturwissenschaftlich interessierten Freimaurerei und die neuen, nicht immer gottgefälligen Ideen führten ab ca. 1740 dazu, dass das englische Königshaus und die Anglikanische Kirche die Kontrolle über die Freimaurerei übernahmen und umsteuerten. Die frühindustriellen Anwender wie auch die Royal Society brauchten aber die Logen als Multiplikatoren nicht mehr und entwickelten die moderne Naturwissenschaft und Technik selbstständig weiter. Der starke Impuls der Naturwissenschaft zur Gründung der Freimaurerei geriet auch bei Historikern bald in Vergessenheit.

Die Royal Society war 1660 offiziell in London gegründet worden. Anders als die Akademien in Paris, Italien und anderswo war diese Gesellschaft explizit naturwissenschaftlich ausgerichtet. In ihren Sitzungen wurde nicht philosophiert, es wurden vielmehr Experimente vorgeführt und diskutiert. Basis und Bezugspunkt der Royal Society war Francis Bacon, der mit seinem oben erwähnten Buch „Novum organum scientiarum“ die Grundlagen des naturwissenschaftlichen Denkens gelegt hatte. In dem kurz nach seinem Tod veröffentlichten Buch „Nova Atlantis“ beschreibt Bacon zudem eine utopische Insel, auf der ein „Haus Salomons“ besteht, in dem von einer Bruderschaft naturwissenschaftliche Forschungen zum Wohle der Gesellschaft betrieben werden. Die Wissenschaftler haben auch die politische Führung der Gesellschaft inne. Manche Interpreten glauben, dass Bacons Haus des Salomon eine Vorlage für den Salomonischen Tempel der Freimaurer gewesen sei, wobei Salomon ein aus dem Alten Testament entlehntes Symbol des Wissens und der Weisheit gewesen wäre. Durch eine spätere christliche Umwertung wäre aus diesem Haus der salomonischen Wissenschaft der Tempel Salomons als Symbol der Gottesverehrung geworden.

Die Royal Society versuchte erfolgreich, die Ideen von Bacon in die Realität zu bringen. Und die zwei ersten, eindeutig belegten spekulativen Freimaurer in England waren Mitglieder dieser neu gegründeten Gesellschaft: Robert Moray war erster Präsident der Royal Society, Elias Ashmole Sekretär. Weitere bekannte frühe Freimaurer, etwa der Chemiker Robert Plot und der Baumeister Christopher Wren, waren später auch Fellows der Royal Society, sodass die freimaurerische Verbindung mit der Royal Society schon lange vor der ersten Großloge in London bestand.

Zukunft und Umbruch

Gerade vor dieser historischen Perspektive gibt es vielleicht einige Brüder Freimaurer, die die heutige „Zeitwende“ nicht nur auf der Ebene der politischen Pragmatik erkennen, sondern grundlegender über die Fundamente der Wahrheitsfindung nachdenken wollen. Und vielleicht gibt es Nicht-Freimaurer, die dazu sehr viel beitragen können und zudem den geschützten, vertrauensvollen Raum der Logen als hilfreich empfinden. Vielleicht liegt tatsächlich unter den vielen tagespolitischen Streitereien die grundlegende Problematik einer dystrophen Zukunftsangst, die weniger durch reale Fakten denn vor allem durch das Unbehagen, die Komplexität und das Abstrakte der Moderne nicht mehr überblicken zu können, getragen wird. Gerade der unbedingt positive Impetus, welcher der Freimaurerei innewohnt und immer wieder zukunftsoffene Brüder zusammenführt, die es wagen, Undenkbares zu diskutieren und mit Freude alte Gewissheiten hinter sich lassen, wäre eine Chance für uns, an der Entwicklung der Zukunft teilnehmen zu können. Dabei sollte nicht gegen die alten Bauhüttentraditionen, die Templerlegenden, die christlichen Vorstellungen, die humanitären Aufklärungsphilosophien und die esoterischen Spielarten argumentiert werden. Sie bereichern die Freimaurerei und sind eine Inspiration. Gerade die Physik und die Naturwissenschaften schaffen Überholtes nicht ab, es bildet immer eine Basis, auf der weiter aufgebaut wird. In der Naturwissenschaft müssen alte Götzen nicht zerstört werden. Moderne Ärzte können immer noch einen Eid auf Hippokrates ablegen, auch wenn sich dessen medizinische Theorien inzwischen als falsch herausgestellt haben, und Newton wird weiterhin als größter Physiker gehandelt, auch wenn ihn Einstein relativiert hat. Denn im physikalischen Prinzip der Wahrheitsfindung trägt der Fehler genauso zur Erkenntnis der Wahrheit bei wie das Richtige. Wahr und Falsch haben hier mit den heute überstrapazierten, nichtphysikalischen Kategorien Gut und Böse nichts zu tun. Zukunftsmächtige Wahrheiten auch auf diesem naturwissenschaftlichen Weg zu erkunden, ist dem interessierten Freimaurer jedenfalls historisch wie auch rituell vorgespurt. Vielleicht ist es an der Zeit.

Literatur

Francis Bacon, Novum Organum scientiarum, Adriani Wyngaerden 1650; Deutsche Übersetzung nach Brück, Anton Theobald, Franz Bacon’s neues Organ der Wissenschaften / Aus dem Lateinischen übersetzt, A. Brockhaus, Leipzig, 1830
Francis Bacon, The New Atlantis, nach der Ausgabe 1624
Ric Berman, The Foundations of Modern Freemasonry / The Grand Architects / Political Change and the Scientific Enlightment 1714–1740, Sussex Academic Press, Brighton UK, 2015, auf der Basis seiner Dissertation
Audrey T. Carpenter, John Theophilus Desaguliers / A Natural Philosopher, Engineer and Freemason in Newtonial England, Continuum International, New York, USA, 2011
John Theophilus Desaguliers, A Course of Experimental Philosophy, Vol. 1 & 2 – Innys, London, 1734/1744
Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, Kindler, München 1992
Lucien Yves Gerbeau, Friedrich der Große, die Hochgrade der Freimaurer und die Naturwissenschaft, Salier Verlag, Leipzig 2022
Arved Hübler, Die Loge als Oberammergau der Aufklärung – Über das Ende der Freimaurerei und was danach kommt; TAU I/2001, S. 41, nachgedruckt in den Hanseatischen Logenblättern 12/2001 sowie in dem Buch A. Hübler: Kritik als Königliche Kunst, VWF Verlag Berlin, 2004, S. 20
Susanne Schröter, Global gescheitert: Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass, Herder, Freiburg 2022

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 6-2022 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.