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Mensch-Sein ist ein offenes Projekt, an dem gearbeitet werden muss

© tomertu / stock.adobe.com

Von Helga WIdmann


Festvortrag zum 40. Jubiläum der Frauen-Großloge von Deutschland

Eine Institution feiert sich. Wir erinnern an jenen Tag vor 40 Jahren, an dem Sr. Christel Dressler im Rahmen eines Festaktes als erste Großmeisterin für die gerade ins Leben gerufene Großloge „Zur Humanität“ einen Hammer überreicht bekam.
Für die Brüder, so die Chronik, sei es wichtig gewesen, dass „die Sitzungen und Veranstaltungen mit dem Hammerschlag eröffnet und geschlossen“ würden.

Man mag mit Befremden über diesen einfachen performativen Akt nachdenken. Kein prunkvolles Ritual, keine Versammlung von Würdenträgern wie sonst üblich. Man kann in dieser schlichten Art des Vorgehens aber auch den zukunftsweisenden Schritt mutiger Brüder erkennen, der herausführt aus traditionellen Vorstellungen — zum berühmten Zauber eines Anfangs.

„Unser Anfang, das war der Hammer!“

Seine Fortsetzung fand er als deutscher Sonderweg in einem ebenso eigenständigen Prozess der Institutionalisierung, rückblickend eine Erfolgsgeschichte. Sie ist dem unermüdlichen Einsatz von Frauen für den Vereinszweck zu verdanken, dem Aufbau von Frauenlogen, der Entwicklung einer eigenen Satzung, einer Großlogenordnung und der später hinzukommenden Mitarbeit im Climaf, dem internationalen Verband von mittlerweile 11 Frauen-Großlogen.

Für unsere Gründungsschwestern und die beiden folgenden Generationen war es ein wichtiges und unabdingbares Ziel, einerseits die gängigen Formen und Inhalte freimaurerischer Institutionen zu übernehmen, gleichzeitig aber selbstbestimmt ihre Vorstellungen von freimaurerischer Arbeit zu verwirklichen. Ich erinnere daran, wie konsequent die Schwestern dem Angebot einer Einweihung in die esoterisch-mystischen Traditionen widerstanden, einschließlich der Einführung aristokratisch ausgerichteter Hochgradsysteme und selbst mit überzeugender Argumentation eigene Grade für Gesellinnen und Meisterinnen entwarfen.

Ich erinnere auch daran, dass die Schwestern der Berliner Loge sich bereits 1949 zu ihrer Gründung für den Namen „Zur Humanität“ entschieden hatten. Im deutschen Sprachgebrauch erreichte der Begriff damals im Vergleich mit den vorangegangenen Jahrhunderten den absoluten Spitzenwert der Nutzungshäufigkeit. Kein Wunder, dass er für die ersten deutschen Freimaurerinnen im Namen zum Programm wurde. Passend dazu hieß es in ihrer Werklehre: „Was ist der Sinn unserer Arbeit? Die Erziehung zur Humanität.“
Die Entstehung der ersten Frauenloge unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg stand aus heutiger Sicht ganz im Zeichen der Wiederbelebung des klassischen Humanitätsgedankens. Noch einmal hatte die Idee von einer idealen Menschheit, das humanistische Ziel einer universellen Bildung der ganzen Menschheit Fahrt in Deutschland aufgenommen. Die Älteren unter uns sind mit diesem Bildungsbegriff aufgewachsen. Die Erziehung zur Humanität und die humanistischen Werte wurden in Schule und Studium vor allem in der Begegnung mit Literatur, Geschichte und Kunst vermittelt. Die Geisteswissenschaften an den Universitäten hatten Hochkonjunktur.

1982, als die Berliner Schwestern ihren Namen der neu gegründeten Großloge überließen, war die Häufigkeit der Verwendung des Begriffes „Humanität“ allerdings schon um mehr als ein Drittel unter den Wert von 1949 gesunken. Sie nahm in den Folgejahren weiter ab und im allgemeinen Sprachgebrauch reduzierte sich die Begriffsbedeutung im Prinzip auf den Bereich der Wohltätigkeit.

Kein Wunder, dass die Mitgliederversammlung der FGLD im Zuge dieser Bedeutungsverschiebung 2003 beschloss, sich von ihrem Namenszusatz zu trennen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Argumente. Man wollte sich unbedingt von „humanitären“ Vereinigungen wie z.B. den Rotariern oder den Lions unterscheiden und wie die anderen Frauen-Großlogen in Europa einfach nur „Frauen-Großloge von Deutschland“ heißen.

So ist uns die Humanität abhandengekommen – zumindest nach außen.

Denn intern nimmt sie uns weiter in Anspruch. In unserer Satzung § 2/1 steht der Begriff „humanitäre Freimaurerei“. Und bei der Aufnahme verpflichtet sich jede Schwester, ihre „ganze Kraft in den Dienst der Humanität zu stellen“. Das ist eine starke Forderung.
Theoretisch ist „Humanität“ ein Basisbegriff der deutschen Aufklärung, verbunden mit Namen wie Lessing, Herder, Fichte, Goethe, Schiller u.a. Sie haben das Nachdenken über Humanität, d.h. über das Wesen des Menschen und was daraus für sein Handeln folgt, im philosophischen Denken der Aufklärung verankert. Für sie war klar, dass Humanität nicht angeboren ist, sondern erworben werden muss. Laut Herder ist der Mensch ein Mängelwesen, aber bildungsfähig. Hieraus entstand die sogenannte humanistische Bildung, Grundlage für mehr als zweihundert Jahre europäischer Schulbildung und großer pädagogischer Bewegungen. Sie wurde als ein lebenslanges Programm erkannt und das Gelernte aus dem Kindes- und Jugendalter sollte seine Vollendung durch Selbstbildung im Erwachsenenalter erhalten. Einsatz von Vernunft und eine gleichwertige Ausbildung der Sinne sowie die Einübung einer idealen sozialen Harmonie sollten die Erziehung zur Humanität bewirken.

Eine der zeitgemäßen Erscheinungen der Erwachsenenbildung war die Idee, diese nach dem antiken Muster von Initiationsgesellschaften zu gestalten. Für die Mitgliedschaft sollten die „besseren“ Menschen aus dem Volk ausgewählt werden und sich mittels des Lehrcharakters der Rituale und der Diskurse in der Gemeinschaft vollends zu „guten“ Menschen entwickeln. Als Hauptziel sollten sie wiederum andere auf diesen Weg bringen, bis alle Menschen erreicht seien. In der freimaurerischen Literatur ist diesbezüglich zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom „Beruf“ der Freimaurerei die Rede, die „Humanität“ als Idealbild der Menschheit, als Endziel menschlicher Entwicklung zu verwirklichen.

Diese Überzeugung spricht auch aus dem Schlusssatz der Zusammenkünfte des Berliner Frauenzirkels im Jahr 1959: „Möge der Glaube an eine schöne Zukunft des Menschengeschlechts von Frauen hinausgetragen werden von hier ins Leben.“
In den 1960er-Jahren werden Aufzunehmende gefragt: „Sind Sie bereit,  Ihr Leben aufzubauen nach den Gesetzen der Ethik und Humanität?“ Und nach dem „Ja“ der Kandidatin heißt es: „So möge der Zirkel, unser Symbol für die allumfassende Menschenliebe, seinen Kreis immer weiter schlagen, bis er eines Tages die ganze Menschheit umfassen wird.“ Diese drei Begriffe waren dabei auch nach altenglischer Tradition den drei kleinen Lichtern zugeordnet und wurden bei der Öffnung der Loge gesprochen.
Der humanistische Geist war 1993, zur Zeit meiner Aufnahme, in unseren Logen noch deutlich spürbar. Unsere älteren Schwestern waren stolz auf ihren Ort der Weiterbildung, und für meine Generation stellte die Logenarbeit eine Ergänzung der eigenen humanistischen Schul- und Berufsbildung dar. Sie bot neue Reflexionsimpulse zu den Fragestellungen der Zeit. Literatur, Kunst und Musik, der schöngeistige Vortrag und das Ritual als eindrucksvolle Inszenierung des humanistischen Bildungsweges in den drei Graden boten uns einen emotional aufgeladenen Rahmen für neue Entdeckungen, für Erfahrungen und Erweiterung des Denkens. Ganz zu schweigen von dem erhebenden Gefühl, uns im humanistischen Geist und der humanitären Freimaurerei in einer Jahrhunderte alten Kette der Gemeinschaft von Gleichgesinnten zu wähnen.

Begriffe wandern.

Inzwischen herrscht die — wenn auch selten öffentlich diskutierte — Einsicht, dass genau dieses Weltbild der Humanisten als ein Ideal für die gesamte Menschheit gegolten haben könne, aus dem heraus sich die aktuelle Situation auf diesem Planeten entwickelt habe.
Das kulturspezifische Denkmodell des Individualismus, das Festhalten an einer bestimmten Form menschlichen Daseins als einem allgemeinen Maßstab für die ganze Menschheit ist gewaltig ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Es mache, so die Argumentation, in seiner humanistischen Selbstherrlichkeit andere Menschen, andere Kulturen minderwertig oder gar wertlos. Das habe sich vor allem im Kolonialismus, im Eurozentrismus und in der Herrschaft des weißen Mannes manifestiert, die genau auf diese Weise funktionierten. Und wir erleben ja selbst mit Entsetzen, wie Menschen trotz unveräußerlicher Menschenrechte über eine solche Macht verfügen, dass sie in ihren Staaten wertende Begriffe wie „Humanität“ nach ihrer Vorstellung definieren und dann sogar Kriege in ihrem Namen führen.
Die völlige Verabsolutierung des Individualismus, wie wir sie heute kennen, ist das Erbe der Romantik. Diese Zeit eröffnete neue Spielfelder der Selbstschau, die dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, während der New-Age-Phase und der wachsenden mobilen Konsum- und Wohlstandsgesellschaft, ihren materiellen und spekulativen Höhepunkt erreichten.

Auch ich sehe heute deutlich die Gefahren der übergeordneten Stellung individueller Vervollkommnung, die Sonderbewertung von „guten“, d.h. sinngemäß „gebildeten“, Menschen. Ich beobachte, wie Individualismus und Streben nach Vollkommenheit häufig mit Egoismus und Selbstbezogenheit einhergehen, wie die Idee der Selbstbestimmung oft genug in Arroganz und Herrschaft umschlägt. Und, ehrlich gesagt, fühlen nicht auch wir uns als „Eingeweihte“ im Bewusstsein unserer exklusiven Zugehörigkeit zu einem Geheimbund schon im kleinen Alltag zumindest ein wenig „besser“ gegenüber anderen? Oder warum etikettieren wir ganz locker den Rest der Menschheit als „profan“ und bewerten sie damit anders als uns, die wir lediglich beim Eintritt in ein selbst inszeniertes Heiligtum mitgespielt haben?

Die Geschichte des Humanismus hat gezeigt, dass er revolutionär, reaktionär und liberal in Erscheinung treten kann. Selbst eine Reihe von Nationalsozialisten waren sogenannte humanistisch gebildete Bürger. Viele sahen mit größter Überzeugung in der Logengemeinschaft das nationalistische Modell eines Staates für künftige Generationen. Vernunft und Barbarei widersprechen sich erfahrungsgemäß nicht.

Begriffe verlieren ihre Wirkungskraft, wenn sie als Etiketten gebraucht werden.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist der Humanismus inzwischen auf seine historische Rolle reduziert und vom sogenannten Posthumanismus abgelöst worden. Dieses Wort tut weh. Es weckt den Gedanken, wir seien bereits in einem Zeitalter „nach“ dem Menschen. Das ist erschütternd für alle, die sich für die Werte und Ideale humanistischen Denkens, für die „Erziehung zur Humanität“ einsetzten bzw. dies immer noch tun. Also auch für Freimaurer*innen. Gäste, Freunde und Bekannte fragen herausfordernd, ob es überhaupt noch zeitgemäß oder nicht gar regelrecht inhuman sei, wozu wir uns bekennen und verpflichten.

Für die vierte und fünfte Generation von uns Freimaurerinnen gehören Bildung und Individualität heute zur selbstverständlichen Grundlage des persönlichen Lebensweges. In unserer Gesellschaft gibt es Angebote zur Erfüllung des permanenten Anspruchs auf eigene, lebenslange Vervollkommnung für jedermann. Nicht wenige kapitulieren bereits vor dem Konsumangebot an Methoden und Materialien zur Selbstoptimierung.

Ich schaue unter diesem Blickwinkel inzwischen auch sehr kritisch auf die Webseiten freimaurerischer Vereinigungen. Die Vielfalt individueller Erwartungen an die Gemeinschaft einer Loge, die sich aus den Texten dort ableiten lässt, bringt eine große Bandbreite individueller Interessen in die Logen hinein. Sie reicht von der Suche nach spiritueller Erfahrung und Identität über die Flucht aus dem Alltag, die Sehnsucht nach Gemeinschaft oder kontemplativer Auszeit bis hin zur Geschäftsmaurerei.
Da wird die freimaurerische Symbol- und Ritualwelt schnell zur Projektionsfläche für persönliche Interessen und Bedürfnisse, und angesichts der unterschiedlichen Zielsetzungen wird die Frage nach dem Sinn unserer Arbeit leicht zum Konfliktherd. Werden die subjektiven Bedürfnisse in der Loge gar nicht mehr befriedigt, zieht man weiter in andere Logen und Großlogen und in die Hochgrade. Diese Angebote werden inzwischen auch von Schwestern der FGLD wahrgenommen.

Der Hammerschlag ist verhaltener geworden.

Wir haben im 40. Jubiläumsjahr unserer Großloge einerseits eine bewegte Zeit hinter uns, sehen uns aber gleichzeitig mit einem Zustand der Welt konfrontiert, hinter den wir nicht mehr zurückkönnen. Jedes Individuum ist für sich ein Mittelpunkt, eingebunden in diverse Netzwerke, in denen humane und nicht-humane Akteure mitwirken. Nano-, Bio-, und Informationstechnologie, Quantenphysik und Kognitionswissenschaften heben die Dualität von Körper und Geist auf, öffnen die Grenzen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen. Sie stellen den Menschen endgültig als „höheres Wesen“ in Frage und entlarven seine vermeintliche Besonderheit als eine selbstherrliche Projektion. Hirnforscher Thomas Metzinger resümiert: „Wir durchleben derzeit die Anfänge einer historischen Umbruchsituation, die uns in mehrfacher Hinsicht vor enorme Herausforderungen stellt — eine sich beschleunigende Entwicklung, die auch unser Menschenbild tiefgreifend verändert.“

Es ist verständlich, wenn sich Menschen in solchen Zeiten nach Bleibendem sehnen. Der reaktionäre Weg ist ein bewährtes Muster, sich von allgemeiner Verunsicherung zu befreien. Wir finden ihn überall dort auf der Welt, wo die Forderung nach festen Vorgaben laut wird, im überbordenden Bürokratismus, der die Menschen reglementiert oder in der Sehnsucht nach autokratischen Regierungsformen. Auch in unserer Großloge zeigt sich das Bedürfnis nach verlässlicher Ordnung. Es gibt den Ruf nach Systempflege, nach einem einheitlich gültigen Ritual, nach Regulierung, Struktur und verbindlichen Ordnungsprinzipien. Nicht zuletzt in ganz praktischen Dingen wie im Bedarf an ausführlichen Regieanweisungen oder einem Handbuch mit Vor- und Ratschlägen für alle Fälle im Logenleben. Bei den Brüdern ist gerade ein Kompendium mit Verhaltenshinweisen und -regeln erschienen, das Unsicherheit beim Verhalten im Bruderkreis, in neuen und ungewohnten Situationen vermeiden soll. Laut Werbung ist es angelehnt an ein ähnliches Werk aus dem Jahre 1925 (!).

Man kann ebenso gut eine initiative Haltung zur Gegenwart einnehmen. Viele Logen und Großlogen versuchen dies mittels medialer Präsentationen. Auch wenn im Ritual immer noch Verschwiegenheit gelobt wird, sehen wir weltweit Bilder von strahlenden Lehrlingen nach der Aufnahme, von neuen Beamtenteams, von neuen Stuhl- und Großmeistern. Die englischen Freimaurer veröffentlichen in ihrem „Square Magazine“ in rascher Taktung Texte zum „täglichen Fortschritt im freimaurerischen Wissen“. Wir können uns freuen über diese Entwicklung. Im virtuellen Raum gibt es keine Regularität mehr, kein Geheimnis. Dort begegnen sich Menschen aus einst hermetisch gegeneinander abgeschotteten Systemen, liken sich gegenseitig und beschwören in Kommentaren die weltweite Verbundenheit. Die Bilder sind beeindruckend — allein mir fehlt die Botschaft, die mehr sagt als nur die Aufzählung abstrakter Tugendbegriffe oder die Beschreibung des lebenspraktischen Nutzens einer Logenzugehörigkeit. Also: Wofür stehen wir? Was verstehen wir denn konkret unter unserer humanistischen Idee, dem sogenannten Tempel der Menschlichkeit bzw. Tempel der Humanität?

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann würde an dieser Stelle sagen: „Menschen entscheiden, was sie erinnern wollen und was nicht und auch gemeinsam über das, was auch in Zukunft noch Geltung behalten und für die Nachwelt erreichbar sein soll.“
Aus heutiger Sicht müssen wir von daher der Abwahl des Zusatzes „Zur Humanität“ im Namen der Großloge nicht nachtrauern. Aber es gibt immer noch das Versprechen im Gelöbnis, unsere ganze Kraft „in den Dienst der Humanität“ zu stellen.
Aufgrund der berechtigten Kritik an der europäischen Vorstellung von einer idealen Welt als Ziel für die ganze Menschheit ergibt sich daraus im Grunde vielmehr die zwingende Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit diesem Erbe. Und so mancher Nachlass hat sich dabei schon als Schatzkiste entpuppt — auch in unserem Fall.

Über Humanität nachzudenken, über all das, was mit uns als Menschen in der Welt zu tun hat, führt uns in unserer Symbolik geistig wieder zurück in die Dunkle Kammer, in das „cabinet de réflexion“, das „kleine Nebenzimmer zum Nachdenken“. Denn dort liegt tatsächlich die Schlüsselfrage auf dem Tisch: „Was ist die Bestimmung des Menschen?“ Es ist die zentrale Frage aus der englischen Renaissance, die im 17. Jahrhundert die Philosophen der Schule von Cambridge beschäftigte, von Shaftesbury, einem ihrer wichtigsten Vertreter ausgearbeitet, vom deutschen Theologen und Philosophen Spalding übersetzt und von den deutschen Aufklärern im 18. Jahrhundert weiterbearbeitet wurde. Sie haben die Bestimmung des Mensch-Seins an vier Wesensmerkmalen festmacht:

  • an der Fähigkeit zur Selbstreflexion und in Folge zur Selbsterkenntnisan der Fähigkeit, sich über eine Art natürlicher Religiosität als Teil eines großen Ganzen zu verstehen,
  • an der Fähigkeit, Gemeinsames mit einem inneren Sinn aus Herz und Verstand zu erkennen
  • und an der Fähigkeit sich im Diskurs mit anderen zu verständigen und somit andere zum Mitdenken über Grundfragen der Ethik zu bewegen.

Diese vier Merkmale werden heute von den anthropologischen Wissenschaften, von Philosophen, Geo- und Naturwissenschaftlern noch genauso bestimmend für das Mensch-Sein gesehen. Dabei herrscht allgemeiner Konsens, dass das vernunftbegabte Wesen Mensch mit seiner anlagebedingten Ausstattung eigentlich zu Maßstäben dessen gelangen müsste, was jeweils jetzt gerade vielleicht „richtig“ oder „gut“, gesellschaftspolitisch, ja vielleicht sogar weltpolitisch notwendig sei.
Nach Ansicht der Hirnforschung werden auch im Verhalten einer säkularisierten, technisierten und globalisierten Menschheit immer die verschiedenen Informationen der erfahrungsbezogenen Einzelsinne mit dem Verstand zusammengefasst, woraus nach Gerhard Roth der sogenannte „Sensus communis“ entsteht, der Gemeinsinn als „interner Berater für planvolles und kontextgerechtes Handeln jedes Menschen“.
Humanität wird also nicht mehr als ein erreichbarer Endzustand verstanden. Mensch- Sein ist vielmehr die Teilnahme an einem dynamischen Prozess mit der Welt um sich herum, der immer wieder neu reflektiert und bewertet werden muss. Dabei schließt Mensch-Sein, auch hier herrscht Konsens, notwendigerweise alle nichthumanen Akteure ein, also alles Lebendige wie auch die Dinge um uns, die erdgeschichtlich da sind und jene, die wir geschaffen haben.

Mensch-Sein ist ein offenes Projekt.

Das macht Mut. Wir können Gegenwart als Zeit verstehen, die das Denken entfaltet, neue Horizonte erschließt und somit neue Handlungsoptionen schafft. Indem wir heute erkennen, dass unsere Welt als Wohnstätte ein begrenzter Raum mit endlichen Ressourcen geworden ist, wird es notwendig, eine nachhaltige Ethik zu entwickeln, eine neue Verbindung ethischer Werte mit dem Wohl einer globalen Gemeinschaft. Das wird erst einmal ein beständiges Experimentieren im Kleinen wie im Großen sein, da es keine Patentrezepte gibt. Es ist ein gemeinsames Ausprobieren von Möglichkeiten, Beziehungen, Werten und Normen, die der Komplexität unserer Zeit gerecht werden, ein Prozess, der die gemeinsame Welt als ein bewegliches Geflecht, als planetarischen Raum neu begreift.

Daran ist zu arbeiten.

Es gilt, den Begriff der Humanität unter den Bedingungen des aktuellen Menschen- und Weltbildes in einem regenerativen Prozess neu zu betrachten. Das heißt zuerst einmal loslassen von der Idee, ein ideelles ethisch-moralisches Modell der Menschheit befördern zu wollen, weil es mit dem Individualismus die Werte anderer Kulturen nicht im Blick hat. Das heißt zudem, sich selbst reflektierend so zu verstehen, dass Mensch-Sein Teil einer evolutionären Entwicklung ist, Teil der Selbstentfaltung der Welt. Jede einseitige Fokussierung des Tuns bringt das Gemeinsame aus dem Gleichgewicht und gefährdet somit den einzigen Lebensraum, den wir haben.
Freimaurerei besitzt in ihren Bildern und Symbolen jenes zeitlose Konzept des Mensch- Seins, das von den vier Merkmalen des Mensch-Seins ausgeht und, den evolutionären Bedingungen geschuldet, die bewusste Gestaltung einer Lebensführung im Miteinander der Welt ermöglicht. Zum Beispiel:

Die Dunkle Kammer und die Frage nach der Bestimmung des Menschen sind unvergessliche Impulse, sich immer wieder in einem evolutionären großen Ganzen zu reflektieren.
Die Ausrichtung der Loge von Osten nach Westen macht uns aufmerksam auf jene Gesetze und Zusammenhänge, die außerhalb unserer Vorstellung und Einflusssphäre liegen. Ebenso der Begriff des Großen Baumeisters aller Welten und sein Verweis auf Maßstäbe, die weit über die unsrigen hinausreichen. Staunen, Ehrfurcht und Nichtwissen erzeugen auch ohne einen bestimmten Glauben, z.B. im Prozess wissenschaftlicher Erkenntnis und in Wertschätzung der kulturellen Vielfalt, noch immer eine Art natürlicher Religiosität bzw. Spiritualität, die uns an die Grenzen der Selbstherrlichkeit erinnert.

Der Begriff der Allumfassenden Liebe spricht Herz und Verstand an, unseren angeborenen Sinn für das Gemeinsame in der Welt zu aktivieren. Er schließt alles Lebendige und auch die „Dingwelt“ mit Herz und Verstand ein — sogar den Einsatz künstlicher Intelligenz.
Und dann ist da theoretisch noch die Praxis des ethischen Diskurses. Sie reicht als zentrales Merkmal der Freimaurerei von den großen Versammlungen des frühen Bauhandwerks über alle Zeiten hinweg bis zu unserer Mitwirkung am Entwurf.
Es ist die gemeinsame Bearbeitung von Grundfragen der Ethik zur Herstellung von Gemeinschaft, in den Logen wie in der Gesellschaft, in Wirtschaft und Politik.

Freimaurerei ist dementsprechend im „Wesen des Menschen gegründet“, wie es Lessing einst formulierte. Folglich kann die freimaurerische Arbeit tatsächlich zeitlos, religions- und kulturübergreifend ihre Beiträge zu dem offenen Projekt des Mensch-Seins leisten. Wo sich Menschen in Gruppen zusammenschließen, schaffen sie einen Ort, wo man miteinander arbeitet. Sie bringen Fähigkeiten aus persönlicher Entwicklung und Lebenserfahrung mit. Sie können sich auf hin- und hergehende Gespräche einlassen und im Idealfall gemeinsame Lösungswege finden. Das praktizierten sie in den Versammlungen der gewerkschaftlich organisierten Lodges der Craft vor 700 Jahren, ebenso in den Logen um 1700, die sich gegen die absolutistische Herrschaft in England wehrten und in den Logen der Klassik mit dem Zweck der Erwachsenenbildung. Sie behandelten lebenspraktische und existenzielle Fragen des Mensch-Seins, wie sie aus allem entstehen können, was uns in der Welt beschäftigt. Freimaurer*innen können also jeden Sachverhalt bewusst reflektieren, weil sie theoretisch in den Logen einen Ort und Gleichgesinnte um sich haben, die mitmachen beim Wagnis, die eigene Vernunft zu gebrauchen und den Sinn für das Gemeinsame in der Welt zu schärfen.

Ich habe hin und wieder in Seminaren die Frage gestellt, was wir bräuchten, um im Extremfall, wenn keine Logenhäuser, keine symbolischen Gegenstände, keine besondere Kleidung zur Verfügung stünden, trotzdem freimaurerisch arbeiten zu können. Das Endergebnis war: nichts — außer uns.

Wir können uns überall hinsetzen, wir können mit eigenen Worten formulieren, zu welchem Zweck wir uns versammelt haben und die konkreten Zwecke des Mensch-Seins bearbeiten, die uns das Leben, die Zeit und die Welt jeweils abfordern.
Dazu reicht ein Mittel, das wir immer bei uns haben und das uns vom ICH zum WIR führt: das Wort, die Sprache, der Dialog, der Diskurs.

Und da taucht die Frage nach dem Geheimen auf. Egal, ob in der Politik, der Philosophie, der Wirtschaft — der Zustand unserer Welt fordert heute ständige globale, regionale und lokale Verständigungsprozesse als Grundlage für gerechtes, lebenswertes Mensch-Sein inmitten von komplexen Vernetzungen auch mit nicht-humanen Strukturen. Brauchen dann nicht auch wir Vernetzung und das Gespräch mit Menschen, die an anderen Orten im Dienst der Humanität tätig sind? Also ein offenes Verhältnis zur Welt? Raum für neue Formen unserer Tradition, wo Altes und Neues nebeneinander sein darf?

Bedenkenträger und Gralshüter wird es hier wie überall geben. Aber auch Zugpferde, die z.B. neue Arbeitsformen mit externen Partnern entwickeln; die das formale System der rituellen Arbeiten anlassbedingt gestalten, um Raum für andere Arbeiten zu gewinnen; die Menschen grundsätzlich eine digitale Teilhabe ermöglichen, da die regelmäßige Präsenz heute keine ausschließende Voraussetzung zur Mitarbeit mehr sein kann; die logenübergreifend an der Erstellung von notwendigem Wissen arbeiten; die überlegen: Wie schaffen wir es, uns andere Meinungen zuzumuten? Wie können wir unsere Gedanken teilen? Was regt die anderen zum Mitdenken an? Was wird von mir beim Zuhören verlangt? Wie kommunizieren wir Erkenntnisse nach außen? Usw. Auch der Diskurs ist ein offener Prozess, der gelernt und ausgehalten werden muss.

Humanität entlässt uns nicht aus der Pflicht, uns als Menschen zu verstehen, die ihre Fähigkeiten einsetzen, mit ihren Werkzeugen im Leben viele raue Steine bearbeiten, Mörtel anrühren, Entwürfe machen und sich dabei als Teil der Welt verstehen, aus der die zu bearbeitenden Steine stammen, die wiederum Teile der Welt werden. Denn diese wird von all dem mitgesteuert, was Menschen handelnd in die Welt bringen. Das ist ein rechtschaffenes Handwerk. Worin sehe ich für mich den nächsten Auftrag? Was ist der nächste Reflexionsauftrag, der uns allen aus dem Leben entgegenkommt? Was sehen wir als Gemeinschaft und zusammen mit anderen als Gebot der Stunde?

In jedem Hammerschlag zeigt sich ein fester Wille.
Deshalb ist der heutige Tag auch eine Ankunft zum Aufbruch.

Dieser Beitrag stammt aus dem Heft 6-2022 der HUMANITÄT, dem deutschen Freimaurer-Magazin. Das Heft kann bei der Kanzlei abonniert werden.